Cover
Titel
Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen


Herausgeber
Mullis, Daniel; Miggelbrink, Judith
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Julia Gilfert, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Extrem rechte Positionen innerhalb der deutschen Gesellschaft haben seit der Jahrtausendwende nicht nur Aufwind bekommen, dieser Wind hat sich noch dazu gedreht. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wurde „bis weit in den gesellschaftlichen Mainstream normalisiert“ (S. 7), wie die Herausgeber:innen des Bandes, Daniel Mullis und Judith Miggelbrink, mit Verweis auf Cas Mudde feststellen.1 Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich in den vergangenen Jahren bereits zahlreicher Aspekte dieser Problematik angenommen.2 Bisherige Studien verfingen jedoch entweder zu stark in dichotomem Denken oder speisten ihre Erkenntnisse aus rein quantitativen Analysen. Mit einem qualitativ-analytischen Blick auf das Lokale3, so Mullis und Miggelbrink, wolle man diese Leerstellen nun adressieren. Denn „[w]enn sich die extreme Rechte auf Bundesebene in Parteien formiert, in landesweiten Netzwerken agiert oder ‚Einzelne‘ zu morden beginnen, dann ist vor Ort schon sehr viel passiert“ (S. 9).

Die Aufsatzsammlung ist in drei Teile gegliedert, in denen sich die Autor:innen der insgesamt dreizehn Beiträge mit räumlichen Differenzierungen rechter Einstellungen, alltäglichen rechten Raumaneignungen und methodischen Herausforderungen auseinandersetzen. Bezüglich der geographischen Verortung der Fallstudien merken die Herausgeber:innen in der Einleitung selbstkritisch an, dass „ein gewisser Fokus auf Ostdeutschland nicht von der Hand zu weisen“ sei (S. 13). Ihrer Ansicht nach „verweist dies aber vor allem darauf, dass es an lokalisierter Forschung zu Westdeutschland mangelt […] und so womöglich Forschungspraxis selbst dazu beiträgt, den Osten als das Problem zu formieren“ (ebd., kursiv i.O.). Wie also lassen sich Klischees und Dichotomien überwinden, wenn bereits ihre wiederholte Benennung Teil ihrer Fortschreibung ist? Hier liegt die Verantwortung nicht zuletzt auch bei den Leser:innen und der Frage, ob es ihnen gelingt, Aushandlungsräume wie Eisenach, Kahla oder den Erzgebirgskreis losgelöst von deren geographischer Verortung zu begreifen.

Die durchweg gut strukturierten und sorgfältig recherchierten Fallstudien jedenfalls pendeln sich zwischen „vermeintlichen und tatsächlichen ‚räumlichen Muster[n]‘“ (S. 10) rechter Gelegenheitsstrukturen ein, wobei jeder Beitrag seine eigene Dynamik hat und entsprechende Schwerpunkte setzt. Manuela Freiheit, Peter Sitzer und Wilhelm Heitmeyer etwa kommen zu dem Schluss, dass weder die Größe noch die geographische Lage eines Ortes entscheidend für die Normalisierung rechtsextremer Positionen ist, sondern die Konfliktfähigkeit der jeweiligen lokalen Gesellschaft. Peter Bescherer spricht überzeugend von einem Stadt-Land-Kontinuum, in dem der lokale Alltag „Teil des Rechtspopulismus und Teil seiner Überwindung“ ist (S. 85). Larissa Deppisch schließlich liefert mit ihrer Analyse zum Zusammenhang von Peripherisierung und „Rechtspopulismuszuspruch“ in einer als „Kadorf“ pseudonymisierten Gemeinde den empirisch dichtesten Beitrag. Folgt man ihrer Argumentation, hatte der hoch emotionalisierte Peripherisierungsprozess Kadorfs seitens der Bürger:innen wahlweise politischen Protest oder Eigeninitiative zur Folge. Kam letztere jedoch von rechtsextrem eingestellten Personen, führte das zu einem „Zielkonflikt zwischen Infrastrukturaufbau und Rechtsextremismusprävention“ (S. 113).

Es ist die durch verschiedenste Praktiken herbeigeführte „sukzessive Verschiebung des Sagbaren“ (S. 11), die sich thematisch durch den gesamten Band zieht und dabei unterschiedliche Akzentuierungen erfährt. Im einen Fall wird historisierende Architektur zum „diskursiven Vehikel für rechtspopulistische Hegemonieprojekte“ (S. 126), im anderen Fall spielt die fortschreitende „Entpolitisierung von Lokalpolitik“ (S. 213) rechten Akteur:innen in die Hände. Die Prozesshaftigkeit rechter Hegemoniebestrebungen als „Konsequenz verschränkter Krisenphänomene“ (S. 147) kann sowohl für Leipzig-Grünau (Paul Zschocke) als auch für Eisenach (Axel Salheiser und Matthias Quent) empirisch überzeugend belegt werden. Insbesondere aufgrund ihrer Praxisorientierung hervorzuheben ist die akteurszentrierte Studie von Kai Dietrich und Nils Schuhmacher. Mit ihrer gelungenen Verzahnung von wissenschaftlicher Theorie und sozialpädagogischer Praxis beleuchten die Autoren den Einfluss von Rechtsextremismus auf die Alltagsgestaltung von Jugendlichen in peripheren Gegenden Ostdeutschlands. Die Interviews wurden hierbei von Fachkräften aus der Jugendarbeit geführt. Sie offenbaren eine „ambivalente Entpolitisierung jugendlichen Alltags“ (S. 184), bei der es weniger um „explizite Demokratieablehnung“ geht als schlicht um das „Bedürfnis, individuell ‚klarzukommen‘“ (S. 197). Nah am empirischen Material beschreiben die Autoren eine „Form der intimen und kompakten Dichte“ (S. 191, kursiv i.O.), in der sie unter anderem die Ursache für die „[e]ingeübte Konfliktarmut“ (S. 197) peripherer Gesellschaften sehen. Hier wie auch in allen anderen Beiträgen zentral: die Rolle der lokalen Zivilgesellschaft und ihr Potenzial als aktive, demokratische „Gegenöffentlichkeit“ (S. 77).

Der letzte Teil des Bandes verspricht qua Titel eine verstärkte Auseinandersetzung mit methodologischen Fragen. Qualitatives Forschen zu politischen Einstellungen ist eine hoch sensible Angelegenheit, die Forscher:innen vor emotionale, forschungsethische und nicht zuletzt vor methodische Herausforderungen stellt (vgl. S. 12). Im Fall von Abdelrahman Helal etwa bestand die Schwierigkeit darin, mithilfe von Geoinformationssystemen „räumliche Schwerpunkte von extrem rechten Aneignungsprozessen in Deutschland jenseits vordefinierter Raumkategorien zu identifizieren“ (S. 222). Seine These, dass sich rechte Strukturen nicht an Landkreise oder Bundesländer halten, sondern grenzüberschreitende Cluster bilden, kann Helal belegen. Zwar bleibt die Beschaffenheit der Cluster äußerst vage4, doch der Autor weiß um die Grenzen seiner Methode. Darin, dass er dieses Wissen auch transparent macht, liegt die Stärke seines Beitrags. Der Band schließt letztlich mit einer methodologisch geradezu entwaffnend ehrlichen Ethnographie. Nils Zimmer hat das Quartier am Berliner Mehringplatz im Zuge rechtsextremer Demonstrationen als „Aushandlungsraum politischer Prozesse“ (S. 261) untersucht. Dabei hat er ein besonderes Augenmerk auf das Erleben der dort wohnhaften Jugendlichen gelegt. Das Besondere: Zimmers Forscherrolle ist hochgradig ambivalent, da er auch als sozialpädagogischer Betreuer vor Ort tätig ist. Genau diese „tendenzielle Auflösung der Distanz zwischen Wissenschaft und eigener Involviertheit in die Geschehnisse“ (S. 266) thematisiert er ausführlich und bringt damit die zentrale Herausforderung ethnographischer Forschungspraxis erfreulich offen zur Sprache.

Mit „Lokal extrem Rechts“ ist ein weiterer klug zusammengestellter Band bei transcript erschienen, der sich mit der gesellschaftlichen Verortung rechtsextremer Positionen befasst. Als facettenreiches Lesebuch und „qualitative Landkarte“ im besten Sinne adressiert es erfolgreich die beiden in der Einleitung genannten Leerstellen – und macht dabei eine weitere sichtbar: Im Kontext akteurszentrierter Raum- und Alltagsforschung (und ganz besonders im Hinblick auf forschungsethische und methodische Herausforderungen) wäre es fruchtbar gewesen, die kulturwissenschaftlichen Disziplinen intensiver einzubinden. Möge diese Erkenntnis nicht als Kritik, sondern als Aufforderung für zukünftige Ethnographien des Politischen verstanden werden – und zwar an beide Seiten.

Anmerkungen:
1 Cas Mudde, Rechtsaußen, Bonn 2020.
2 Vgl. u.a. Lynn Berg / Jan Üblacker (Hrsg.), Rechtes Denken, rechte Räume? Demokratiefeindliche Entwicklungen und ihre räumlichen Kontexte, Bielefeld 2020; Johannes Schütz / Raj Kollmorgen / Steven Schäller (Hrsg.), Die neue Mitte. Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten, Köln 2021; Matthias Quent, Deutschland rechts außen, München 2019.
3 Das Lokale wird hier in Anlehnung an Doreen Massey (Space, Place and Gender, Minneapolis 1994) als „Ort individueller und emotionaler Aneignungsprozesse“ definiert, „der immer auch ökonomisch wie politisch produziert (und umstritten) ist und als solches als relevant für die Funktionsweise von Gesellschaft verstanden werden muss“ (S. 10).
4 Genannt werden etwa „ganz Mecklenburg-Vorpommern, der Osten von Niedersachsen und der Süden von Schleswig-Holstein; der Osten von Brandenburg; der Süden von Sachsen-Anhalt und Bereiche von Sachsen und Thüringen sowie der Südosten von Bayern“ (S. 240).

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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